Samstagsessay:KI als Schulfach

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SZ-Grafik: Dalila Keller (Foto: SZ-Grafik: Dalila Keller)

In Europa mangelt es an Fachkräften für das Gebiet der künstlichen Intelligenz - das ist eine ernsthafte Herausforderung. Wie Unternehmen und Politik gegensteuern können.

Von Gerhard Weiss

Künstliche Intelligenz (KI) ist eine Schlüsseltechnologie unseres Jahrhunderts. KI-Experten werden auf der ganzen Welt dringend gesucht - aber es gibt einfach nicht genug davon. Der Bewerbermarkt ist deshalb leergefegt und der globale Wettbewerb um KI-Talente enorm. Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Hochschulen bieten im Fachbereich Künstliche Intelligenz zwar Voll- und Teilzeitstellen an für Praktikanten, Werkstudenten, Systementwickler, Programmierer, Junior- und Senior-Berater, wissenschaftliche Mitarbeiter, Doktoranden und Professoren. Schätzungen zufolge gibt es in Forschung und Wirtschaft zurzeit weltweit etwa 200 000 bis 300 000 KI-Experten. Jährlich werden etwa 20 000 Fachleute mit einschlägigen Bachelor-, Master- oder Doktoratsabschlüssen ausgebildet. Das Problem ist: Gebraucht würden mehr als eine Million KI-Experten.

Eine Folge davon ist, dass schon junge und noch relativ unerfahrene KI-Ingenieure mit außerordentlich hohen Einstiegsgehältern rechnen dürfen. Im Silicon Valley beispielsweise liegt das Jahresgehalt für Angestellte mit KI-Expertise bei etwa 130 000 Euro, das durchschnittliche Jahreseinkommen für KI-Stellen, die auf dem Stellenportal Glassdoor angeboten werden, hat sich bei etwa 100 000 Euro eingependelt, und auf dem Karriereportal Paysa liegt das durchschnittliche Gehalt für KI-Stellen (wovon 35 Prozent eine Promotion und 26 Prozent einen Masterabschluss erfordern) sogar bei 150 000 Euro. Auch große Firmen, darunter sogar die Schwergewichte Google und Microsoft, können derzeit etwa 20 Prozent ihrer offenen KI-Stellen nicht besetzen.

Es reicht nicht, die Schulen nur mit schnellen Anschlüssen ans Internet auszurüsten

Der Wettbewerb um KI-Experten findet inzwischen nicht nur zwischen Firmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen statt, sondern auch auf nationaler Ebene zwischen einzelnen Ländern und - im Streben um die "Vorherrschaft in der KI" - auf multinationaler Ebene zwischen USA, China und Europa. Europa tut sich sehr schwer in diesem Wettbewerb und hat seit einigen Jahren sogar einen "KI-Braindrain" zu beklagen: Immer mehr KI-Fachkräfte wandern ab zu außereuropäischen KI-affinen Firmen, allen voran zu den großen Tech- und Internet-Firmen aus USA und zunehmend auch zu chinesischen Hightech-Riesen.

Der Mangel an KI-Fachkräften bringt für europäische Unternehmen ernsthafte Probleme mit sich. Vielen von ihnen bleibt dadurch der Zugang zu dieser Schlüsseltechnologie und somit zu innovativen KI-basierten Anwendungen, Produkten und Dienstleistungen versperrt. Auf mittlere und lange Sicht bedeutet das für die europäische Wirtschaft einen deutlichen Wettbewerbsnachteil, zumal - anders als Europa - die USA und vor allem China bereits seit mehreren Jahren massiv und mit vielen Milliarden in die KI-Forschung und die wirtschaftliche Nutzung von KI-Technologien investieren. Europas Unternehmen und Politik müssen deshalb dringend etwas gegen diesen Fachkräftemangel tun. Wirkungsvolle Maßnahmen hierfür gäbe es durchaus.

Wichtiger denn je ist es angesichts dieser Ausgangslage, starke strategische KI-Allianzen und -Partnerschaften zwischen Unternehmen und Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu schließen. Davon profitieren beide Seiten: Unternehmen bekommen direkten Zugang zu KI-Expertise und können eigenes KI-Know-how aufbauen. Umgekehrt erhalten Wissenschaftler die Möglichkeit, KI-Technologien im Rahmen von praxisnahen Problemstellungen zu erproben und weiterzuentwickeln.

Solche Allianzen können beispielsweise Masterarbeiten und Praktika betreffen, wenn es darum geht, erste Erfahrungen mit KI-Technologien zu sammeln. Aber auch umfangreichere Forschungs- und Entwicklungsprojekte können so angegangen werden, etwa wenn unternehmensinterne Kernprozesse mithilfe von KI-Technologien optimiert werden sollen. KI-Allianzen können aber auch bedeuten, gemeinsam finanzierte Stellen zu schaffen, die es Wissenschaftlern erlauben, sowohl in ihrer Universität als auch in einem Unternehmen zu forschen und sich in der Aus- und Weiterbildung von Studierenden zu engagieren.

Unternehmen müssen bereit sein, in solche Allianzen Zeit und Geld zu investieren. Die Politik könnte den Aufbau solcher Allianzen fördern. Zum einen, indem sie das dafür nötige Geld bereitstellt. Zum anderen, indem sie ein europaweites Kontakt-Netzwerk ins Leben ruft und fördert. Dieses Netzwerk würde es Unternehmen ermöglichen, schnell und unkompliziert kompetente Ansprechpartner und Anlaufstellen aus dem akademischen KI-Umfeld zu finden. Nur wenn Unternehmen die Möglichkeit haben, gezielt relevante Informationen über vorhandene KI-Technologien und ihre möglichen Anwendungen aus erster Hand zu bekommen und gemeinsam mit Experten Projektideen auszuloten, wird es gelingen, KI und Wirtschaft effektiv zu vernetzen.

Nicht zuletzt sollten Unternehmen auch in Betracht ziehen, strategische Allianzen mit anderen Unternehmen zu bilden, um so gemeinsam KI-Anwendungen zu entwickeln. Auf diese Weise könnte KI-Expertise zusammengeführt und Kosten gespart werden. Zudem würde das Risiko auf mehrere Schultern verteilt. Unternehmerische Allianzen können auch dazu dienen, Daten über Unternehmensgrenzen hinweg zu bündeln. Dies würde neue Anwendungen ermöglichen, die aber den Einsatz datenintensiver KI-Technologien wie etwa maschinelles Lernen erfordern. Mit solchen Allianzen würden Unternehmen ausnutzen, dass Daten eben nicht "das neue Öl" sind, wie manchmal behauptet wird. Im Unterschied zu Öl können nämlich Daten von beliebig vielen Unternehmen beliebig oft benutzt werden. Sie können auch von jedem Unternehmen erzeugt und unterschiedlich verwendet werden - weshalb Daten für verschiedene Unternehmen unterschiedlichen Wert haben können.

Ein schönes Beispiel für eine unkonventionelle Allianz als Antwort auf eine sich stark verändernde Technologie- und Marktsituation ist die kürzlich von den Konkurrenten Daimler und BMW beschlossene Bündelung ihrer Mobilitätsdienste. Treffend formulierte es der frühere Daimler-Chef Dieter Zetsche: "Wir werden eine Reihe völlig neuer Wettbewerber haben. Wenn wir weiterhin nur das tun, was wir so gut gemacht haben, sind wir erledigt." Genau darum geht es auch bei dem Markt- und Technologiewandel, der von der KI bewirkt wird.

Um mittel- und langfristig sicherzustellen, dass in Europa genügend KI-Fachkräfte zur Verfügung stehen, muss vor allem umfassend in KI-Bildung investiert werden. Auch hier kann die Wirtschaft einen wichtigen Beitrag leisten. Unternehmen können es den großen Tech- und Internet-Giganten gleichtun und ihre eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gezielt fördern, sich KI-Kenntnisse anzueignen und sich im Bereich der KI weiterzubilden. Eine Möglichkeit wäre es zum Beispiel, die Mitarbeiter für die Teilnahme an Online-Kursen (sogenannten MOOCs) freizustellen und finanziell zu unterstützen. Diese Kurse gibt es in hoher Qualität zu verschiedenen KI-Themen, angeboten werden sie beispielsweise von Udemy, Udacity und Coursera.

Das Angebot an KI-spezifischen Studiengängen muss europaweit deutlich ausgeweitet werden. Zwar liegen hierzu in vielen europäischen Ländern schon entsprechende Absichtserklärungen vor. Die Umsetzung jedoch geht nur sehr zögerlich voran. Zudem kann man den Eindruck bekommen, dass bei der Ausweitung des KI-Studienangebots zu sehr auf Quantität geachtet wird. Es kommt jedoch nicht nur auf die Anzahl neuer Professuren und Stellen für den akademischen Mittelbau an, sondern auch darauf, diese Stellen qualitativ so hochwertig auszustatten, dass sie mit den attraktiven Stellen von Google und Co. konkurrieren können.

Klappt es nicht mit der KI, ist das für Europa ein Wettbewerbsnachteil

Als langfristig angelegte Maßnahme muss KI schließlich als eigenständiges Fach an allgemeinbildenden Schulen eingeführt werden - hier ist die Bildungspolitik gefordert. In diesem Fach sollten neben Grundlagen auch gesellschaftliche, wirtschaftliche und ethische Auswirkungen der KI behandelt werden. Die deutsche Gesellschaft für Informatik hat auf die Bedeutung von KI als Schulfach hingewiesen - und darauf, dass es nicht genügt, mit dem "Digital-Pakt" nur auf moderne digitale Infrastruktur hinzuwirken.

Es wäre fatal für Europa, würde es seine Bemühungen um die KI-Bildung nicht deutlich stärken. Das zeigt ein Blick nach China. Dort wird der Aufbau von weiteren KI-Studiengängen, eigenen KI-Fakultäten und KI-Forschungseinrichtungen von der chinesischen Regierung bereits seit Jahren mit großem Nachdruck vorangetrieben. Derzeit werden rund 400 neue Studiengänge mit den Schwerpunkten KI, Big Data, Data Science und Robotik eingerichtet. Auch hat KI bereits Einzug in chinesische Schulen gehalten. Im vergangenen Jahr wurde ein mehrbändiges KI-Buch samt darauf abgestimmter Programmierplattform vorgestellt, das die gesamte Schullaufbahn - vom Kindergarten (was auch in China nicht unumstritten ist) bis zu den Abschlussklassen höherer Schulen - abdeckt.

Der KI-Fachkräftemangel ist ein ernstes Problem für die europäische Wirtschaft. Um es zu lösen, ist es entscheidend, starke KI-Allianzen zu bilden und umfangreich in KI-Bildung zu investieren. Flankiert werden müssen diese beiden Maßnahmen durch eine umfassende Förderung von KI-Spitzenforschung. Hierzu gehört beispielsweise auch der Aufbau von europäischen KI-Forschungszentren, wie es auch von den europäischen KI-Initiativen Claire und Ellis gefordert wird. Unternehmen und Politik müssen dem Mangel an KI-Fachkräften gemeinsam und auch entschlossen entgegentreten. Für Europa geht es dabei um viel, die USA und China sind mächtige Konkurrenten. Und die Zeit drängt.

Gerhard Weiss ist Professor für Informatik und künstliche Intelligenz an der Universität Maastricht und leitet dort das Department of Data Science and Knowledge Engineering.

© SZ vom 24.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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